Rede am 25.1.04 zur Eröffnung in Alsleben
UNSER TÄGLICH BROT
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Es war im letzten Sommer, als eine Einladung aus Alsleben, genauer gesagt eine Einladung
des blauen Bandes, an die Burg Giebichenstein flatterte:
das Angebot, die leerstehende Kirche für Ausstellungszwecke zu nutzen. Wir Lehrenden
reagierten zurückhaltend, aber eine Gruppe von Studierenden wurde neugierig und besah
sich den Ort, entwickelte erste Ideen und bat mich kurze Zeit später, doch einmal mitzukommen
und eventuell das geplante Projekt zu begleiten.
Zu diesem Zeitpunkt war alles noch sehr vage, auch die Zusammensetzung der Gruppe änderte
sich noch ständig. Klar aber war von Anfang an, dass es sich um mehr und anderes handeln
muss als darum, Bilder und Plastiken und Installationen und was auch immer in der Abgeschie-
denheit von Ateliers entsteht, zufälligerweise hier statt anderswo zu zeigen.
Zu gross war die Herausforderung, mit Mitteln der Kunst auf die vorgefundene Situation zu
reagieren, zumal uns plötzlich auch noch die verlassene Mühle als Arbeitsfeld angeboten wurde.
Vorgefundene Situation:
das war diese stille, entvölkert wirkende kleine Stadt. Vorgefundene Situation war das ver-
waiste Gotteshaus, in der Tat gottverlassen, seit langem schon schien es sich eingerichtet zu
haben in diesem schweigenden Zustand des Vergessen-Seins, nicht mehr gebraucht, ja, vielleicht
nicht einmal mehr vermisst oder betrauert . Und vorgefundene Situation waren die verlassenen
alten Mühlengebäude, im Vergleich zur verstummten Kirche nahezu geschwätzig. In ihnen fanden
wir eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Erzählungen, Rätseln,Spuren, ein beredtes
Zeugnis ihrer selbst und ihrer noch immer nachpulsierenden Geschichte.
Ein geöffneter Getreidesack stand nahe der Eingangstür, als wäre ergerade abgestellt worden,
als hätte sein Träger Punkt dreiviertelvier alles stehen und liegen lassen und wäre in den wohl-
verdienten Feierabend entschwunden um morgen an genau dieser Stelle weiter zu machen.
Förderbänder schienen gerade eben gestoppt. Der Blick in die abgrundtiefen schwarzen Speicher
liess die Ahnung zu, sie seien vielleicht noch halb voll, der Geruch nach Getreide lag in der Luft ...
Es geisterte. Es hing noch die Präsenz, der Atem derer im Raum, die einstmals hier gearbeitet
haben.
Es war eigenartig. Als wäre die Zeit gerade eben zum Stillstand gekommen und die Protagonisten
gerade eben verschwunden, als hätten wir sie mit unserer eigenen Präsenz verscheucht.Der
zweite Blick aber offenbarte sofort etwas ganz anderes:
Über allem lag eine Schicht feinen Mehlstaubs und kündete von verstrichener Zeit, Mehlwürmer
hatten darin ihre ornamentalen Spuren hinterlassen. Kreisrunde Löcher in den Holzböden wiesen
auf bereits begonnene Demontage hin, früher waren hier offensichtlich Rohre gelegt,die alle Etagen
durchliefen, Transportsysteme, deren Funktion und Ziel sich unserer Kenntnis entzog. Jetzt aber
gaben die zurückgebliebenen Löcher den Blick frei in darunter oder darüber liegende Stockwerke,
gaben kleine Ausschnitte preis und entführten die Fantasie in andere mögliche Welten.
Wir waren fasziniert und ratlos zugleich.
Wir betrachteten die Mühle wie ein Kunstwerk, ganz von Aussen suchten wir die dem Gebäude
eingeschriebene Biografie zu entziffern, fasziniert von der Aura der Melancholie, wissend zugleich,
dass diese hinwegtäuscht über die andere Seite, dass wir es, nüchtern betrachtet, mit derHinter-
lassenschaft real gelebten Lebens zu tun hatten.
Es wäre an dieser Stelle möglich und sicherlich auch notwendig über vieles zu sprechen, über den
Verlust von Arbeitsplätzen und Lebenszusammenhängen, über die Folgen der Globalisierung, über
den Fortzug aus den ostdeutschen Städten, über die Notwendigkeit Utopien zu entwickeln, jenseits
des hoffnungslosen Festhaltens an der Vorstellung eines sich ausschliesslich als Arbeitsgesellschaft
definierenden Gemeinwesens, über Hoffnungen und Enttäuschungen.
Heute aber möchte ich über die Kunst sprechen, die hier entstanden ist in den letzten Monaten. (Und
hoffe, dass dieser andere Part weiterhin zum Thema wird in den folgenden Monaten (denn für die
Studentinnen und Studenten vor Ort war er im Laufe der Zeit längst auch zum Thema geworden). In
den folgenden Monaten und darüber hinaus. Und dass wir vielleicht auch gemeinsam herausfinden,
was das Eine mit dem Anderen zu tun haben könnte.) Ich habe bewusst von Mitteln der Kunst ge-
sprochen und bislang nicht von Kunstwerken. Denn wenn wir hier jetzt auch sichtbare und greifbare
und auch hörbare Ergebnisse der Auseinandersetzung der Studierenden mit diesem Ort vor uns
haben, möchte ich mich nicht auf die Frage einlassen, ob dies nun Kunst sei oder nicht --- obwohl
ich sicher bin, dass sich Viele von Ihnen heute diese Frage stellen werden, und dies durchaus auch
aus gutem Grunde.
Aber ich möchte mich von einer anderen Seite nähern und eben lieber von den Mitteln der Kunst
sprechen, weil es um eine Herangehensweise geht, weil es um einen Perspektivwechsel geht und
um ein Erkunden, ein Befragen des Vorgefundenen, des Sichtbaren und dessen was dahinter liegt.
Man könnte einen Vergleich anstellen. Die Kirche, die Mühle sind, seid sie verlassen sind, in tiefen
Schlaf versunken. Sie träumen, wie Schlafende das zu tun pflegen. Im Traum verbindet sich das real
Erlebte, die Erinnerung daran auf überraschende Weise, Bilder entstehen aus der Verknüpfung von
Bewusstem und Unbewusstem, von Beobachtetem, Wünschen und Ängsten. Eine Erfahrung, die wir
alle kennen.
Bilder dieser Art sind hier entstanden, wurden Gegenstand von Reflexion und haben sich dement-
sprechend gewandelt, entwickelt. Die vorgefundene Situation bildete den Fundus für die entstandenen
Arbeiten, fast alle beschränken sich in den Mitteln auf das, was vor Ort
zu finden war..
Wenn Sie sich nun auf den Weg machen werden, die Räume dieses Gebäudes und der Kirche zu erkun-
den, werden sie auf verwunderliche Dinge stossen:
Auf eigensinnige Figuren, aus leeren papierenen Mehlsäcken, aus Holz und Gerümpel gebaut, kreatür-
lich, unheimlich, von Spuren des Lebens gezeichnet, erschreckend und lockend zugleich.
Sie werden hinter einer Speicherluke eine Ansammlung von Gläsern finden, die erstaunliche Fund-
stücke aus der Mühle bergen, Haarklammern, einen Zettel mit einer kurzen Notiz, Schrauben, Hölzchen,
eine tote Maus, Staubgebilde: eine Wunderkammer des Alltags.
Sie werden, vielleicht irritiert, vor einer honiggelb leuchtenden Holzwand stehen, scheinbar Fremd-
körper in dieser staubig-grauen Umgebung, aber eben doch ihr zugehörig:
Eine der Speicherwände wurde gesäubert, geschliffen, lackiert und wurde dadurch zu etwas Beson-
derem gemacht, zu etwas Kostbaren. Man kann diese Wand wie ein stilles Gemälde betrachten, man
kann bei genauerem Hinsehen Druckstellen und andere mechanische Spuren entdecken und auch sie als
einen Teil der Biografie des Hauses lesen. Man kann kurzzeitig den Boden unter den Füssen verlieren,
weil die Wand die Anmutung eines Parkettbodens hat und den Raum kippen lässt. Und man wird sich
auch der ironischen Anspielung auf potjemkinsche Dörfer nicht entziehen können.
In einem anderen Raum bricht Lärm los, wenn Sie ihn betreten. Ausrangierte Maschinenteile beginnen
zu vibrieren und zu lärmen, als meldeten sie sich nochmals trotzig zu Wort. Eines der maschinen-
ähnlichen Gebilde aber bleibt stumm, bis Sie selber mit Ihrem Fuss einen Schalter bedienen: das Vielen
von Ihnen vertraute Signal ertönt, das früher die Tage portionierte, jetzt aber sind Sie Herr oder
Herrin dieses Signals --- und ob Sie diese Tatsache mit Triumpf oder Wehmut oder Wut erfüllt, ver-
mag ich nicht zusagen.
Sie werden lange Reihen von nach Oben offenen Glaskuben finden mit wundersamem Inhalt. Wenn Sie
sich darauf einlassen genau hinzuschauen, können Sie vielleicht eine Geschichte erkennen, die so oder
ähnlich gewesen sein könnte.
Sie werden Tafelbilder finden und fast sich versteckende kleine Collagen, Verknüpfungen von inneren
und äusseren Bildern zu rätselhaften Räumen, Verknüpfungen von Malerei, Tapetenresten und anderen
übriggebliebenen Materialien.
Das Emblem der Mühle wird Ihnen an unerwarteten Stellen wieder begegnen, in der Reihung ein ver-
blüffend schönes Ornament. Sie werden auf das bewusst in Szene gesetzte ornamentale Werk der Mehl-
würmer stossen, auf ein an einem Abgrund stehendes kleines Haus und ein in rätselhaftem Dunkel sich
verlierenden Raum.
Und: Sie werden eine Hommage an die Menschen entdecken, die hier in der Mühle gearbeitet haben. Sie
finden einen Teil dieser Hommage dort, wo Sie das eigentliche Element der Mühle finden, den Weizen,
der auch den Schlüssel zum Titel der Ausstellung bildet. Unser täglich Brot. Hier wird die Brücke
zur Kirche geschlagen. Die Bitte um Unser täglich Brot ist Bestandteil unseres wichtigsten Gebetes,
das Brot spielt zentrale Rolle in der christlichen Liturgie. Unser täglich Brot ist aber auch unser
Grundnahrungsmittel und kann auch Synonym sein für unsere Grundversorgung überhaupt --- und für
Arbeit. So bespielt diese Installation folgerichtig auch beide Orte, die Mühle und die Kirche. Das, was
wir in einem der Mühlenräume auf einem Monitor sehen, spielt sich in der Apsis der Kirche ab: eine
rotierende Scheibe trägt die Namen derer, die zur Zeit der Schliessung der Mühle hier noch gearbeitet
haben. Sie werden somit zu den eigentlichen Protagonisten und ich möchte an dieser Stelle Victor Lopez
zitieren, der diese Arbeit gemacht hat:
Der wahre Wert verbirgt sich in den Namen, in den Personen, welche die zirkulierende, andauernde
und stetige Bewegung der Mühle, der Zeit, in Gang hielten und immer noch halten. Er verbirgt sich im
Geist ihrer Arbeit, über deren Entlohnung und ökonomischen Wert hinausgehend, denn sie sind die Han-
delnden, die Protagonisten und Eigentümer der Geschichte.
Ich werde später noch einmal darauf zu sprechen kommen. Jetzt aber sind wir inzwischen in der Kirche
angelagt und Sie sollten es auf keinen Fall versäumen zu schaukeln!
Plötzlich ist der Raum wieder mit so etwas wie Spiritualität erfüllt.
Schaukeln: das kommt dem Fliegen schon sehr nah, dem Sich-Fortträumen. Das ist ein überirdisch anmu-
tendes Gefühl von Glück, eine wunderbare Erinnerung an die Kindheit, in der man ganz und gar in diesem
Glück aufgehen konnte und vielleicht kann man es ja heute noch einmal ... .
Probieren Sie es aus!
Bleibt da noch ein weiterer Raum, der so ganz und gar aus dem Rahmen fällt . Er hat auf den ersten Blick
nichts mit einem Kunstwerk zu tun und auch nicht mit der Mühle. Es scheint sich da jemand behaglich ein-
gerichtet zu haben. Wir betreten ein grosszügiges Zimmer mit Bett und Tisch und Stuhl und Schrank, mit
einer Kochecke und Badewanne, kurz allem was man zum Wohnen so braucht.
Nein, das ist nicht in erster Linie die Basisstation der Akteure der letzten Monate hier, auch wenn sie oft
dazu genutzt wurde. Das ist eine eigensinnige Behauptung, das ist auf Bleiben angelegt, das sieht nach Auf-
bruch aus und nach einem trotzigen gewaltigen Blick nach Vorn.
Keine Spurensuche mehr.
Also doch Basisstation. Für Zukünftiges, für schöpferische Neunutzung. Vielleicht auch für etwas, was so
ganz und gar aus dem Blickfeld gerückt ist: für Muse.
Vielleicht liegt ja in diesem Raum der Grundstein für eine Praxis jenseits aller Verwertungsökonomie.
Jenseits des hoffnungslosen Festhaltens an der Vorstellung eines sich ausschliesslich als Arbeitsgesell-
schaft definierenden Gemeinwesens.
Vielleicht entsteht hier eine Art Labor zur Entwicklung jenes von Victor beschworenen Geistes von Ar-
beit, deren Wert über die Entlohnung und den ökonomischen Wert hinausgeht, und wir somit wieder zu
Handelnden, Protagonisten und Eigentümern der Geschichte werden können.
Das ist eine grosse Utopie und wir sind weit davon entfernt, die gesellschaftlichen Bedingungen dafür
geschaffen zu haben. Dieser Raum aber, so deplaziert erscheinend an diesem aufgegebenen Ort, kann uns
an diese Sehnsucht erinnern ---- und an unsere Fähigkeit zum Trotz.
Also hat das Eine mit dem Anderen doch zu Tun: mit Mitteln der Kunst über das Leben nachdenken.
eben: Kunst als Leben.
Ich möchte an dieser Stelle meine Bewunderung aussprechen für die Studentinnen und Studenten, die sich
auf dieses Wagnis KUNSTalsLEBEN. eingelassen haben, trotz offenen Ausgangs. Die nicht nur die Spuren
der Dinge zu lesen versuchten , sondern Sie, die Menschen vor Ort, befragten und sich mit Ihrer Hilfe der
eingeschriebenen Biografie der Orte näherten.
Sie haben in unzähligen Anläufen die beiden Gebäude aufgeräumt und entrümpelt, immer mit der schweren
Entscheidung konfrontiert, was denn nun als Müll zu betrachten sei und was den Orten als auf Dauer zuge-
hörig (Der Müll ist der Bruder der Mühle, hatte Franziska einmal gesagt).
Sie haben vollkommen selbständig dieses Projekt realisiert.
Das heisst, sie haben neben der Entwicklung und Umsetzung ihrer jeweiligen eigenen Arbeit Verhandlungen
geführt , Anträge gestellt, Pressearbeit geleistet. Sie haben sich um Plakat und Einladungskarten geküm-
mert, haben Transporte organisiert, kurz, sie haben einfach alles gemacht, was zur Realisation eines so
komplexen Projektes nötig ist.
All dies aber wäre nicht gelungen, hätten nicht viele Menschen hier dazu beigetragen.
Hätte nicht das Blaue Band die Iniative ergriffen. Hätte nicht Beate Spalthoff an der Hochschule die
Information weitergegeben. Hätten nicht Herr Deubler und Herr Dr. Kraft die Sache unermüdlich unter-
stützt und vorangetrieben. Hätten die Stadt Alsleben und ihre Bewohner die Studentinnen und Studenten
nicht so offen und freundlich aufgenommen und ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden -- und ich meine
jetzt sehrViele hier, die ich jetzt einzeln alle gar nicht nennen kann.
Ihnen allen meinen sehr herzlichen Dank!
Einen ganz besonderen Dank aber möchte ich der grossartigen Familie Bauer aussprechen, die uns in bei-
spielloser Grosszügigkeit und Freundschaft unterstützt hat. Sie hatten immer ein offenes Haus und of-
fenes Ohr für uns, sie haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes über Wochen beherbergt
und bekocht, ja, ich hatte immer den Eindruck, sie waren sehr schnell zu einer Art kleinen Heimat ge-
worden, zu einem zuhause.
Dafür möchte ich Ihnen ganz besonders danken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.